Wiener Zeitung /// 7. Mai 1996
„Das Auge des Künstlers“
 Ein Buch von Wilhelm W. Reinke
Die Doppeldeutigkeit des Titels ist das Programm des Buches. Die Augen des
          Fotografierenden sehen in die Augen des fotografierten Künstlers. Die Linse des
          Fotoapparates ist der Schnittpunkt der Blicke, der Ort des Dialoges. In diesem Sinne ist
          „Das Auge des Künstlers“ das Ergebnis klassischer Porträtfotografie.
 Für das erste
          Buch von Wilhelm W. Reinke „Dank des Künstlers“, fotografierte er die Verbeugung von
          Schauspielern und befragte sie nach ihren Gefühlen nach dem vollendeten Auftritt und der
          Bedeutung des Applauses. Hier spiegelt sich seine Hochachtung vor den Großen der Kunst. Er
          – der Betrachter und selbst Schauspieler – ist der applaudierende Bewunderer. Getrieben
          von der Lust und der Neugier an der persönlichen Begegnung hat er sich aus der Masse der
          Anbetenden herausbegeben, um dem Flair des Erfolges nachzuspüren.
 In „Das Auge des
          Künstlers“ offenbart sich die Lust Reinkes am direkten Erleben. Gleichzeitig zeigt es aber
          auch sein analytisches Interesse. Reinke hat sein Buch nicht nach Sparten der Kunst
          gegliedert, sondern sachlich nach dem Alphabet. So ergibt das Buch eine Sammlung von
          Bildern von Menschen mit ähnlichen Eigenschaften. Das zufällige Nebeneinander vom
          Regisseur Rosa von Praunheim, dem Architekten Julius Posener, dem Schauspieler Heinz
          Rühmann, dem Fotografen Ulrich Görlich. Vier, die sich vermutlich nie begegnet sind,
          haben, neben der Tatsache, daß sie alle vom selben Fotografen porträtiert worden sind,
          eins gemeinsam: sie sind berühmt geworden durch ihre Kunst, durch ihre Liebe zur
          Gestaltung und wie Peter Ustinow in seinem Vorwort zum Buch formuliert: „Künstler sind die
          einzigen Menschen, die wirklich unabhängig sind. Natürlich nicht finanziell, aber im
          Geiste sind sie immer unabhängig und nicht nur das; sie müssen so bleiben, wenn sie
          Künstler sein wollen.“
 Wilhelm W. Reinke hat ein Buch geschaffen, das die Künstler
          außerhalb von Ruhm und Glamourwelt und damit in ihrer Unabhängigkeit präsentiert. Seine
          Fotos sind privat. Der Fotograf wollte ganz nah sein. Auch wenn einige skeptisch blicken,
          fühlen sie sich dennoch nicht bedrängt. Wir sehen freundliche Gesichter, sie sind
          Zeugnisse einer kurzen intimen Begegnung. 
 Das Porträt von Bernhard Minetti
          beispielsweise, wie er dasitzt und sich dem Tun des Fotografen ganz überläßt, zeugt von
          einem vorangegangenen Gespräch, das von beiderseitigem Vertrauen geleitet ist. Wilhelm W.
          Reinke, selbst Schauspieler, weiß vom Leben hinter der Bühne. Seine Sensibilität läßt es
          nicht zu, die Fotografierten zu entlarven. Die Bilder dienen keinem voyeuristischen Zweck,
          sie dokumentieren das Recht auf Privatheit öffentlicher Personen. 
 Auch die
          Interviews, die Reinke mit den Künstlern führt, beziehen sich auf deren persönliches
          Verhältnis zu ihrer Arbeit. Sie sind von unterschiedlicher Offenheit. Während Eva Mattes
          keine einzige Frage nach ihrer Haltung zu Gott oder der Kunst beantwortet, ist Yehudi
          Menuhin recht gesprächig.
 Parallel zum Fotografiestudium absolvierte Reinke das
          Studium der Literatur. Der Text ist daher nicht ergänzendes Beiwerk zum Bild, beides
          gehört zusammen und ergibt erst die Vollständigkeit. Für den Leser-Seher spannend ist die
          Frage: paßt das Bild, das Reinke von dem Künstler hat, zu dem, was der Künstler sagt – und
          – fügt sich das mit dem, was ich von dem Schauspieler auf der Bühne, oder dem Gemälde des
          Malers, der Fotografie der Fotografin, oder dem Buch des Schriftstellers kenne, zusammen?
          Reinkes Buch ist daher ein Buch zum Blättern, von hinten nach vorn und wieder zurück, oder
          zum Innehalten zwischendrin. Und nach jeder Musik, nach jedem Film oder Gemälde der von
          Reinke fotografierten Künstler ist das Bild von ihnen wieder neu. Das Buch ist also ebenso
          unvergänglich wie die „Großen“ der Kunst.
 Das Buch ist, und will dies auch sein, ein
          Buch der Selbsterkenntnis des Fotografierenden. Wilhelm W. Reinke, derzeit Meisterschüler
          der Fotografie an der Hochschule für bildende Künste Braunschweig und damit gerade auf der
          Schwelle zum professionellen Künstler, befragt mit den Porträtierten vor allem auch sich
          selbst. Reinke hat sich bei den Profis umgesehen, hat von ihrem Können profitiert, hat
          sich von ihrem Ehrgeiz anstecken lassen und ihre Unabhängigkeit „aufgenommen“.
ULRIKE LAHMANN
Hamburger Morgenpost Nachtausgabe /// 14. März 1995
Steter Kampf mit der Kunst
Der Mann ist ziemlich direkt und
          verwegen. Fragt gut 60 Autoren, Musiker, Maler und Regisseure – darunter Mario Adorf,
          Marianne Hoppe, Pavel Kohout, Cecilia Bartoli –, wie sie denn Kunst definieren, ob sie an
          Gott glauben und dergleichen Dinge mehr. Nicht jeder Gesprächspartner ist dabei allerdings
          so sensibel und uneitel wie der Fotograf und Interviewer Wilhelm W. Reinke (31), der mit
          „Das Auge des Künstlers“ einen Bildband der angenehm schnörkellosen Art vorgelegt hat. Die
          großformatigen Schwarzweiß-Portraits und Kurz-Gespräche des gebürtigen Braunschweigers
          verraten mehr über manche Zeitgenossen und ihr stetes Ringen mit diesem werkwürdigen
          Gegenstand – Kunst genannt – als viele ellenlange Abhandlungen: „Das Auge des Künstlers“
          öffnet und schärft das Auge des Betrachters.
 „An gute Künstler erinnert man sich
          häufiger als an gute Politiker“, schreibt Peter Ustinov in seinem persönlich gehaltenen
          Vorwort. Die Bilder und Gespräche – stets nah am Menschen dran, aber nicht aufdringlich –
          frischen die Erinnerung etwas auf.
SUL
Berliner Morgenpost /// 5. März 1995
Viele Gesichter hat die Kunst
Ein Fotograf, der Fragen stellt – das ist Wilhelm W. Reinke. Er wollte von „seinen“
          porträtierten Prominenten wissen, wie sie den Begriff Kunst definieren; ob sie an Gott
          oder eine andere Kraft glauben; welcher Leitsatz ihnen wichtig ist.
 „Junge Gesichter
          können schön sein, aber faltige sind interessanter.“ Das finden zwar nicht unbedingt immer
          die, die Falten haben, aber Fotograf Wilhelm W. Reinke hat das festgestellt. Vier Jahre
          lang war er auf der Suche nach Gesichtern, „die etwas erzählen“ und auf die er „Das Auge
          des Künstlers“ (sprich: des Fotografen) richten konnte. So lautet auch der Titel seines
          neuen Bildbandes, der jetzt im Cantz Verlag, Stuttgart, erschienen ist (124 S., 128 Abb.,
          68 Mark). In ihm sind die Porträts bekannter Schauspieler und Regisseure, Maler,
          Schriftsteller und Fotografen zu betrachten; junge, ältere und viele alte. Von A. wie
          Mario Adorf bis Z wie Rosel Zech. Und auch Baselitz und Biermann kommen vor, Hamann und
          Heesters, Menuhin, Meysel, Mira, Rühmann, Rühmkorf und Ustinov, der in „einer Art Vorwort“
          zum Thema Künstler schreibt:
 „Der Künstler ist immer ein Suchender. Und er muß, im
          Zusammenhang mit der Neugier, die Kapazität behalten, erstaunt zu sein. Der gleiche Prozeß
          findet bei einem Kind statt, weil es neugierig umherschaut, über Antworten erstaunt ist
          und dadurch lernt. An der Universität, wo ich Kanzler bin, sagte ich den Studenten, daß
          sie hier wären, um die Gewohnheit des Entdeckens wieder zu erlernen. Ich habe es nie
          aufgegeben, weil ich der Meinung bin, daß das Lernen nur mit dem Tod endet oder mit dem
          Danach. Das hängt davon ab, was sie glauben.“
RENA

